Angst im Alter
ist keine Schande
Angsterkrankungen im Alter bleiben häufig unerkannt. Körperliche Symptome verschleiern das eigentliche Problem. Worauf Betroffene und Angehörige achten sollten und wie Medikamente, Psychotherapie und Selbsthilfe unterstützen können.
Wenn Gertrude H. abends ins Bett geht, denkt sie voller Sorgen an die Nacht. Werden ihr Hitzewallungen den Schlaf rauben? Oder kann es auch wieder einmal eine sorglose Nacht geben? Die knapp 70-jährige pensionierte Lehrerin hat schon vieles probiert, um ihre Schlafstörungen in den Griff zu bekommen. „Ich habe fast zwei Jahre lang damit verbracht, meinen Körper immer wieder durchchecken zu lassen“, erzählt die Niederösterreicherin. Vom Internisten bis zum Zellspezialisten habe sie alle Fachleute, die ihr im Bekanntenkreis empfohlen wurden, aufgesucht. Nicht nur die Schlafstörungen und die Nachthitze quälen sie seit ihrer Pensionierung. Immer wieder hat sie auch das Gefühl, ihre Beine würden sie nicht tragen, sobald sie einen Schritt vor die Haustür macht. „Ich habe begonnen, meinen Radius immer mehr einzuschränken“, erzählt Gertrude. Schleichend sei das gegangen. Von den geliebten Kaffeehausbesuchen in der Innenstadt und den Treffen mit Freundinnen im Bad sei am Ende nur mehr der allernotwendigste Gang zum Supermarkt ums Eck geblieben.
Im Alter werden Ängste reaktiviert
Menschen wie Gertrude gibt es viele, denn Angsterkrankungen im Alter schlummern häufig im Verborgenen und werden selbst von Ärzten oft lange nicht erkannt. „In vielen Fällen überdecken körperliche Symptome die ursprüngliche Problematik“, erzählt Psychiater Michael Musalek, Leiter des Anton Proksch Instituts Wien. Im Alter gäbe es drei Faktoren, die das Entstehen von Depressionen und Angsterkrankungen begünstigen würden. „Je älter wir werden, desto mehr Verluste im Freundes- und Bekanntenkreis erleben wir; das belastet“, sagt Musalek. Dazu kämen eigene körperliche Krankheiten oder Schmerzen sowie „das Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit“. Wer von Haus aus ängstlich war oder vielleicht schon früher einmal an einer Angsterkrankung litt, fällt dann leicht zurück in die alten Schwierigkeiten.
Die Kraft der menschlichen Nähe
Auch Gertrude hat ihre Pensionierung wie einen Schock erlebt. Auf einmal wurde sie – die Lehrerin aus Leidenschaft – scheinbar nicht mehr gebraucht. Ihr einziger Sohn lebt in Wien. „Einsamkeit und die Frage, bin ich noch etwas wert, wenn ich nicht mehr so viel leiste, sind große Themen“, weiß Musalek. Wer im Alter sozial gut eingebunden ist, hat in jedem Fall einen Vorteil und ist dadurch möglichweise resilienter. „Wertschätzende menschliche Nähe kann helfen, Ängste zu reduzieren“, sagt der Facharzt und gibt den konkreten Tipp, sich möglichst vor dem 60. Lebensjahr um die Pflege der eigenen Beziehungen zu kümmern.
Wie wichtig menschliche Nähe ist, hat die Forschung mittlerweile mehrfach belegt. So beschreibt etwa der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther in seinem Buch „Wege aus der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden“ ein Experiment, das Forscher mit Affen machten. Um ein neues Präparat gegen Angst zu testen, setzte man zuerst einen einzelnen Affen in einen Käfig, der von einem knurrenden Hund umkreist wurde. Sofort zeigte der Affe typische Angstsymptome und der Stresshormonspiegel in seinem Blut stieg an. Daraufhin holten die Forscher einen zweiten Affen in den Käfig. Beide Tiere gemeinsam wiesen in Anwesenheit des bellenden Hundes keinerlei Stressreaktion auf. Freundschaft und Partnerschaft zählen zu den wichtigsten Mitteln gegen Angst und Stress bei sozial organisierten Säugetieren – so der Schluss der Wissenschaft.
Selbsthilfe als Königsweg
Selbsthilfegruppen gelten daher als besonders hilfreich für Menschen mit Angsterkrankungen. Für die amtierende Obfrau des Clubs D&A (Depression und Angst) Wien, Margareta Kalemba-Holzgethan, ist die Entscheidung, sich in die Gruppen zu wagen, bereits der erste Schritt in Richtung Heilung. „Zu uns kommen Menschen jeden Alters“, sagt die Psychotherapeutin und fügt hinzu: „Die Vielzahl der Meinungen und Lebenserfahrungen macht die Gruppen so besonders.“ Gefragt, warum sie die Arbeit mit Selbsthilfegruppen schätze, sagt die ausgebildete Logotherapeutin: „Auch ich lerne noch immer unglaublich viel von den Teilnehmern.“ Und: „Es ist immer wieder berührend zu sehen, wie heilsam die Gruppe sein kann.“ Dabei gibt sie ein Beispiel: „Wenn jemand zu uns kommt, der sehr weit von seinen Gefühlen entfernt ist, kann es sein, dass er durch die Erzählungen der anderen bemerkt, was er bei sich alles weggesperrt hatte. Ich erinnere mich an einen ausgebrannten Mann, der nach einem dreiviertel Jahr im Club D&A sagte: Jetzt spüre ich, dass ich auch wütend bin.“ Das habe alle Gruppenteilnehmer berührt, so Kalemba-Holzgethan.
Angst ist keine Schande
Auch Gertrude hat den Weg in die Selbsthilfegruppe gefunden. Nicht sofort. „Etwas widerwillig“, wie sie erzählt, habe sie zuerst Medikamente genommen. „Der Einstieg über pflanzliche Produkte ist mir leichter gefallen.“ Danach habe sie auf das Drängen ihres Sohnes eine Psychotherapie begonnen. „Auch das wollte ich nicht“, sagt sie heute lachend. „Ich dachte mir: Ich bin doch nicht verrückt.“ Lange habe es gebraucht, bis sie sich selbst eingestehen konnte, dass große Ängste keine Schande sind. Selbst einfachste Tipps konnte sie schwer annehmen. Zu Beginn fiel es ihr schwer, sich zu motivieren. „In der Psychotherapie habe ich gelernt, dass das Teil der Erkrankung ist“, sagt Gertrude heute.
Die Zukunft gestalten
Der Schritt in die Gruppe habe also mehrere Jahre gedauert. „Selbsthilfe ist dann sinnvoll und zielführend, wenn eine Person so weit ist“, bestätigt auch die psychoanalytische Psychotherapeutin Sabine Sammer-Schreckenthaler aus Wien. Im Falle der Angst könne dies, wie auch bei Gertrude, einige Jahre dauern, denn wer mit einer sozialen Angst eine Gruppe besucht, hat die Angst quasi besiegt. Mittlerweile ist Gertrude so weit, dass sie sich sogar die Moderation einer eigenen Gruppe vorstellen könnte – wer weiß, vielleicht klappt das ja bald. Vorerst „übt“ sie noch, allein mit dem Zug nach Wien zu fahren, um ihren Sohn und das Enkelkind dort öfters besuchen zu können.
Resilienz: Warum es sich lohnt,
biegsam zu werden
Resilienz ist wie der Grashalm im Wind, besagt eine Metapher. Er biegt sich sanft zur Seite, anstatt zu brechen. Was macht Menschen zu „flexiblen“ Individuen, die immer wieder aufstehen – selbst nach schweren Krisen?
Wenn es um Resilienz geht, erzählt die deutsche Neurowissenschaftlerin und klinische Psychologin Leonie Ascone Michelis gerne aus der eigenen Erfahrung, denn – so ihre Überzeugung – Resilienz lässt sich immer auch bis zu einem gewissen Grad lernen. „Früher musste ich jeden Vortrag penibel vorbereiten und hatte große Angst, dass man mich für weniger kompetent als alle anderen halten könnte“, erzählt Ascone Michelis. Durch das Erlernen von Achtsamkeitstechniken habe sie Abstand zu diesem Verhalten und den dazugehörigen Angstgedanken gewonnen und sei dadurch resilienter geworden. „Mittlerweile improvisiere ich manche Vorträge sogar vollständig und habe festgestellt, dass es keinen so großen Unterschied macht“, sagt die Forscherin.
Was sie privat erlebt hat und beruflich beforscht, ist nichts anderes als die Frage der psychischen Widerstandskraft eines Individuums, um den verschiedensten biologischen, psychologischen und sozialen Risiken gut begegnen zu können. Der Begriff Resilienz stammt aus dem Lateinischen. „Resilere“ bedeutet „abprallen“. Resiliente Personen reagieren flexibel auf schwierige Lebensumstände und meistern Stresssituationen erfolgreicher als nicht-resiliente.
Resilienz ist (auch) erlernbar
Laut der Hamburger Psychologin Leonie Ascone Michelis, die am Universitätsklinikum Eppendorf zu neuronaler Plastizität forscht, fußt Resilienz auf drei Faktoren: der genetischen Disposition, der sozialen Prägung und dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld, in dem sich ein Mensch befindet. „Jeder Mensch bringt eine neuronale Grundausstattung mit, die mehr oder weniger günstig sein kann“, so die Forscherin. Hierzu zählt zum Beispiel das Temperament eines Menschen. „Personen mit hohen Stimmungsschwankungen haben es schwerer, eine hohe Resilienz zu entwickeln“, sagt Ascone Michelis. Wie sich diese Veranlagung konkret entwickelt, hängt jedoch stark vom sozialen Umfeld eines Menschen ab. „Da wir mittlerweile wissen, dass Gene durch Umwelteinflüsse veränderbar sind, spielen vor allem die ersten Lebensjahre eines Menschen eine große Rolle“, sagt Ascone Michelis. Hierbei würde es jedoch nicht um einzelne Erlebnisse in der Kindheit an sich gehen, sondern eher um die allgemeine Atmosphäre in der Beziehung, in der ein Kind aufwächst.
Emotionskompetenz von klein auf macht resilient
Die Entwicklung von Angsterkrankungen bei Kindern wird häufig durch den Umgang des Umfeldes beeinflusst wird. Ängstliche Kinder werden möglicherweise – unabhängig von ihrer jeweiligen Lebenssituation – später zu Ängsten neigen. Haben sie jedoch früh gelernt, dass es sich dabei um keinen Beinbruch handelt und man auch mit Ängsten leben kann, ist schon vieles gewonnen. Dies ist auch der Punkt, an dem Psychotherapie ansetzen kann, denn frühe Beziehungserfahrungen – das ist heute wissenschaftlich belegt – lassen sich auch im Nachhinein zu einem Teil überschreiben.
Mit Achtsamkeit aus Grübelschleifen aussteigen
„Durch Psychotherapie können auch Erwachsene ihre eigene Resilienz fördern“, sagt Ascone Michelis. Was bedeutet das konkret in Bezug auf Angsterkrankungen? „Bei den allermeisten Angsterkrankungen liegen ,Denkverzerrungen‘ vor. Das heißt: Risiken und potenzielle negative Folgen werden deutlich überschätzt!“ erklärt Ascone Michelis. Gemeint sind damit etwa Denkstile wie Katastrophisieren, Schwarz-Weiß-Denken, Alles-oder-nichts-Denken oder Grübeln. „Hier sollte vor allem beim Grübeln angesetzt werden“, sagt Ascone Michelis und fügt hinzu: „Zunächst muss die Erkenntnis stehen: Viele Dinge im Leben, wenn nicht sogar die meisten, vor allem aber Dinge, die außerhalb unserer selbst liegen, können wir nicht kontrollieren. Wird man sich bewusst über die Tatsache, dass Grübeln einen Kontrollversuch darstellt, der allerdings ins Leere läuft und sogar auf Kosten der eigenen Schöpferkraft und Fähigkeit zum konstruktiven Problemlösen geht, ist ein erster Schritt gemacht.“ Dies bedeutet, man kann durch das Erlernen neuer Emotionsregulations- und Denkstrategien auch resilienter werden! Achtsamkeitspraxis ist kein Medikament, das von heute auf morgen wirkt. Längerfristig kann sie jedoch zum wesentlichen Baustein für einen besseren Umgang mit den eigenen Ängsten werden.
Alltag mit Angst oder
„Der Angst den Stinkefinger zeigen“
Angst kann zum Lebensbegleiter werden – das weiß auch die 30-jährige Jana F. Wie viele Betroffene hat sie über zwei Jahrzehnte mit ihrer Angst gelebt – in einem Auf und Ab von guten und schlechten Episoden. Der phasenhafte Verlauf macht die Feststellung einer Angsterkrankung oft besonders schwer. Ein Erfahrungsbericht.
Wenn sich Jana etwas wünscht, dann ist es, der Angst den „Stinkefinger“ zu zeigen. Zu lange haben Ängste ihr Leben immer wieder dominiert, findet die 30-jährige Biologie-Studentin aus Wien. Für Jana ist das Leben mit Angst der „Normalzustand“. „Ich war schon als Kind auffällig ängstlich“, erzählt die junge Frau, die im Gespräch recht souverän und „tough“ wirkt. Schon in der Volksschule habe sie sich zum Beispiel extreme Sorgen um ihre Schwester und ihre Eltern gemacht. „Ich habe oft befürchtet, dass sie nicht mehr nach Hause kommen oder schwer erkranken könnten“, erzählt Jana im Rückblick. Bis heute ist „Krankwerden“ ihr „Angstthema“. Mittlerweile geht es jedoch um sie selbst.
Immer alarmbereit
Meldet der Körper eine Veränderung oder taucht ein unerwarteter Schmerz auf, so läuten bei Jana sofort die Alarmglocken. Während sich andere bei Bauchschmerzen einen Tee kochen, geht Jana von Schlimmerem aus. Könnte es Krebs sein, fragt sie sich dann und ein zermarterndes Gedankenkarussell beginnt. Was folgt, ist nicht selten ein kleiner Ärztemarathon. „Es fällt mir zumeist schwer zu glauben, dass ich nicht tödlich krank bin, wenn nicht alles durchgecheckt ist“, sagt Jana. Sie weiß, dass es schon oft „aus dem Ruder gelaufen ist“, wenn sie nach einem MRT zum x-ten Mal hört: „Wir haben festgestellt, Sie haben nichts.“ Und doch lassen die Angst und die Anspannung immer erst mit dem negativen Befund nach.
Sich mit der Angst einrichten
Es ist kein leichtes Leben mit so viel Anspannung. Im Gegenteil, Jana weiß, wie anstrengend und kräftezehrend der Alltag zuweilen werden kann. Um immer wieder doch noch abschalten zu können, beamt sie sich dann beim stundenlangen Serienschauen oder Computerspielen weg. Was beim Zuhören extrem mühsam klingt, hat Jana jahrelang still ertragen. Sie kann auf viele derartige Angstspiralen zurückblicken. Warum hat sie so lange gewartet damit, sich fachärztlich-psychiatrische Hilfe zu suchen? „Man richtet es sich einfach ein in seinem Angst-Leben“, weiß Jana zu berichten und fügt hinzu: „Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich eine Angsterkrankung habe. Für mich ging es immer darum, meine körperlichen Beschwerden abzuklären. Dann war wieder alles gut.“ Kurzfristig begonnene Therapien hätte sie daher auch immer wieder abgebrochen.
Neustart
Was Jana jahrelang erlebt hat, ist nicht untypisch für Angsterkrankungen. Häufig ist Betroffenen ihre Symptomatik lange nicht klar; Scham- oder Schuldgefühle halten viele davon ab, sich rasch Hilfe zu holen. Jana hat diesen Punkt überwunden. Seit Kurzem ist sie medikamentös eingestellt und erleichtert, dass die Anspannung im Alltag dadurch gesunken ist. Und auch die ständigen Gedankenkreisel seien wesentlich weniger aggressiv. „Alles ist ein bisschen auf Abstand“, erklärt Jana. Trotzdem möchte sie es nicht bei den Medikamenten belassen. „Mir kommt diese Unterstützung in manchen Momenten oberflächlich vor“, sagt sie und erzählt, dass sie nun erstmals längerfristig eine Psychotherapie angehen möchte. Ob sie dabei auf die Ursachen ihrer Angst stößt, weiß sie noch nicht. „Vieles ist doch auch erblich“, sagt Jana mit gutem Grund, litt doch bereits ihr Vater unter einer Angsterkrankung. „Bei ihm war es weniger schlimm, er hat sich damit abgefunden“, ergänzt sie. Jana will jetzt erstmals der Angst ins Auge sehen. Zum Schluss des Gesprächs sagt sie daher mit einem verschmitzten Lachen: „Ich will nicht, dass die Angst immer gewinnt.“